Rumänien: Abenteuer Menschlichkeit

EG Spiegel
Lippstadt 1/2003

Rumänien: Abenteuer Menschlichkeit
Als ich vor ungefähr zwei Jahren eine ehemalige Schülerin im Intercity zwischen Hamburg und Münster traf, ahnte ich nicht, dass das eine Begegnung mit Folgen sein sollte. Irmi Küthe erzählte mir von ihrem Beruf als Kommunikations- und Outdoor-Trainerin und von ihren zahlreichen Reisen in viele Gegenden der Welt. Besonders begeistert und begeisternd sprach sie von Rumänien, dem Land, in dem sie schon einige Male Kurse geleitet hatte, das sie aber auch auf eigenen Reisen und Wanderungen erkundet hatte, vornehmlich Siebenbürgen. Ein Grund für ihre zahlreichen Reisen dorthin war u.a. auch ein Projekt, das sie zusammen mit einer rumänisch-ungarischen Freundin betreibt: Sie kümmert sich um Roma-Mädchen in einem Waisenhaus in Targu Mures (Neumarkt); mehr davon später. Irmi lud mich damals ein, an einer von ihr geplanten Bildungs- und Begegnungsreise nach Rumänien teilzunehmen, und ich sagte zu. Im Juni 2002 war es dann so weit. Eine kleine Gruppe von acht Personen startete von München nach Sibiu (Hermannstadt); im Land selbst hatte wir außer Irmi noch zwei kompetente Reiseleiter. Außerdem stand uns ein Kleinbus zur Verfügung, der uns zu unseren Zielen brachte. Obwohl viele meiner Bekannten, die von meinen Plänen erfuhren, fragten: „Warum denn Rumänienß Das ist doch kein Reiseland“, wurde es eine erlebnisreiche Fahrt, die ich nicht missen möchte.
Wir besuchten zuerst Sovata, einen Kurort in den Karpaten mit wunderschönen, schnitzerei-verzierten Holzhäusern; in Sighisoara (Schässburg) sahen wir u.a. den gut erhaltenen mittelalterlichen Stadtkern und die renovierte evangelische Bergkirche; in Targu Mures (Neumarkt) staunten wir über die kostbare Bibliothek und den Kulturpalast und erlebten ein klassisches Freiluft-Konzert, und in Sibiu schlenderten wir durch die interessante Altstadt und besuchten die grandiose protestantische Kirche. Das war – kurzgefasst – der mehr touristische Teil unserer Reise. Aber ebenso wichtig waren uns die Begegnungen mit rumänisch-ungarischen Familien, unseren Gastgebern in Targu Mures, die uns drei Tage lang beherbergten und uns u.a. mit Köstlichkeiten aus der Landesküche und mit vielen guten Gesprächen erfreuten. Natürlich kann ich nicht das Elend verschweigen, das wir auch sahen: bettelnde Frauen und Kinder (hauptsächlich Roma), zerstörte Landschaften und Industriebrachen aus der Ceaucescu-Zeit, baufällige Gebäude in den Städten. Auch meine Gastgeber hatten nur ein kleines Apartment in einer Hochhaussiedlung, wie wir sie in Deutschland an den sozialen Brennpunkten der Großstädte finden. Trotzdem war die Begegnung mit den Menschen herzerfrischend und bereichernd.
Ein besonderes Erlebnis war der Besuch des Waisenhauses in Targu Mures, wo die Mädchen leben, für die Irmi und ihre Freundin Agnes Verantwortung übernommen haben. Wir alle haben ja noch die Bilder von den Zuständen in den Waisenhäusern vor Augen, die nach Ceaucescus Schreckensherrschaft veröffentlicht wurden: hospitalisierte Kinder, die nackt in ihrem Kot hockten, ohne Pflege und Zuwendung. Diese Zeiten sind, Gott sei Dank, vorbei. Trotzdem sind die Verhältnisse in dem oben genannten Waisenhaus für unsere Begriffe unvorstellbar. Etwa 140 Mädchen, alle körperlich oder geistig behindert oder retardiert, halten sich Tag für Tag in drei Schlafräumen auf, vor einem unter der Decke angebrachten, ständig laufenden Fernseher. Es gibt keine Aufenthaltsräume, nur Essräume, die außerhalb der Essenszeiten nicht benutzt werden dürfen. Ein kleiner grauer Innenhof, vor kurzem von einer holländischen Gruppe mit etwas Farbe versehen, ist die einzige Spielfläche, die gar nicht alle Kinder fasst, denn im heim leben noch ungefähr 200 Jungen im Jungentrakt. Obwohl das Gebäude, von einer kleinen Mauer mit Stacheldraht darauf umgeben, mitten in der Stadt liegt, haben die Kinder nur einmal in der Woche Ausgang. Beim Gespräch mit der einzigen Psychologin für die Mädchen wurde uns klar, wie groß die Not dort ist, vor allem für die Mädchen, die 18 Jahre alt sind und das heim verlassen müssen. Sie stehen buchstäblich auf der Straße, und das bedeutet Prostitution für sie. Hier nun setzt das Projekt der beiden engagierten Frauen an: Sie wollen dafür sorgen, dass die zehn Roma-Mädchen, die sie schon sehr lange betreuen, in eine beschützende Wohnung einziehen und evtl. später in einer beschätzenden Werkstatt einen Job finden können (beides gibt es in Rumänien kaum). Irmi kümmert sich hier in Deutschland um Sponsoren, während Agnes weiterhin in der Nähe der Mädchen ist und sich um ein „soziales Netzwerk“ bemüht, das die Mädchen auffängt. Eine Vereinsgründung soll dem Projekt einen festen Rahmen geben; erste Kontakte zu einem rumänischen Kooperationspartner sind geknüpft worden.
Mich beeindruckt der Mut und die Tatkraft der beiden jungen Frauen. Sie übersehen Not nicht, sondern versuchen einfühlsam und überlegt zu helfen. Die Bibel nennt solche Menschen „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“.

Inzwischen ist von Irmi Küthe der Verein „ORIZONT-Hilfe zur Selbsthilfe e.V.“ gegründet worden, der das Projekt Roma-Mädchen in Targu Mures weitertreibt. Jede Hilfe und Unterstützung als Mitglied oder Förderer ist willkommen (Spendenkonto: Sparkasse Allgäu, BLZ 610 622 862, Stichwort: „ORIZONT-Hilfsprojekt für rumänische Mädchen).
Außerdem sind für 2003 zwei Reisen nach Rumänien geplant, voraussichtlich Ostern (16.04. bis 22.04.03) eine Rundreise durch Siebenbürgen und im Sommer eine Reise durch Siebenbürgen bis zu den Südkarpaten (22.06. bis 28.06.03). Näheres unter: www.orizont.de

Zum Foto (Rumänien sw.tif): Teilnehmer der Rumänien-Reise in Targa Mures mit den Mädchen vor einer Eisdiele. Sechste von links: Irmi Küthe
Renate Rentz